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Die Arbeit des 1946 in Morciano di Romagna geborenen Malers Paolo Serra ist in seiner geometrischen Abstraktion der gesamten künstlerischen Entwicklung der Moderne so nahe, dass seine streng auf geometrische Formen aufgebauten Kompositionen immer wieder im Zusammenhang mit Pionieren wie Piet Mondrian, Kasimir Malewitsch, Josef Albers, aber auch Ad Reinhardt, Barnett Newman und Marc Rothko in Verbindung gebracht werden. Ein Vergleich, der jedoch bei eingehender Untersuchung relativiert werden muss. Durch die Wiederbelebung vergangener Traditionen, sowohl bezüglich Technik wie im Bildaufbau, bedient sich Serra einiger Kenntnisse vergangener Epochen, so dass seine Werke – auch – einer weit zurück reichenden Vergangenheit verpflichtet sind. Dennoch gelingt es dem Künstler, diese Verpflichtung mit seiner immerwährenden Experimentierfreudigkeit zu verbinden und somit eine Brücke in die Zukunft zu schlagen. Serras Farblandschaften leben nicht, wie bei den – vermeintlichen – Vorgängern, aus der Fläche und dem Ton des Farbfeldes, sondern darüber hinaus aus einer höchst sensiblen Peinture des Details, wodurch sich eine Überlagerung eines raffinierten und sensiblen Makrokosmos von Gesamt-Form und –Farbe sowie eines Mikrokosmos von diaphanen Lasurenschichtungen ergibt.



Zum Einsatz kommen Farben, die vom Künstler anhand tradierter Rezepturen selbst angerührt werden. In der Tat lassen die Farbzubereitung mit aus Pflanzen und Mineralien gewonnenen Pigmenten, die Verarbeitung von Lapislazuli und Malachit, die Herstellung von Eitempera, Ölfarben, sowie die Anfertigung der Bildträger an Künstlerwerkstätten vergangener Jahrhunderte denken. Neben sorgfältig ausgewählten Leinwänden finden auch nach alt überlieferten Anleitungen bearbeitete Holztafeln ihren Einsatz. Nicht weiter verwunderlich, dass Il libro dell’arte, von Cennino Cennini um 1390 verfasst, Serras erster Leitfaden für die Ausführung seiner Tempera- und Ölgemälde war, zu denen sich im Laufe der Zeit die inzwischen für ihn so typischen Lack- und Oxydarbeiten hinzugesellten. Die so gesammelten Erfahrungswerte und Kenntnisse werden durch Erprobung anderer und auch neuer Materialien erweitert, die der Künstler ausführlich testet. So kommen beispielsweise aus dem Straßenbau und der Gartengestaltung bekannte Textilien wie Geovlies als Träger seiner Gemälde und Holztafeln nach neuestem Stand der Technik angefertigt zum Einsatz.



Die Werke Serras zeichnen sich durch flächigen Farbauftrag aus. Kreise, Quadrate und Rechtecke sind die Grundformen des Bildaufbaus. Die Konzentration auf eben jene Formen, die Andrea Palladio 1570 in seinen Quattro Libri dell’architettura als die idealen herausgearbeitet hatte, kann bei einem derart guten Kenner der Kunst der vergangenen Jahrhunderte kein Zufall sein. Die monochrom ausgeführten rechteckigen oder



quadratischen Flächen nehmen fast die gesamte Bildfläche ein, oder teilen diese in zwei horizontale Hälften. Die sich ergebenden Kontraste können extrem unterschiedlich ausfallen. Diese werden durch das eingesetzte Material, durch die angewandte Technik oder durch die Häufigkeit der Arbeitsvorgänge bedingt. Beispielsweise stehen dem Künstler allein um eine Schwarztönung herzustellen unterschiedliche Pigmente zur Verfügung. Diese wiederum können mit verschiedenen Ölen oder mit Ei angerührt werden, so dass sie immer wieder neuartige Effekte beim Auftrag entfalten. Der Einsatz – punktuell oder als Bildgrund – von Fremdmaterialien wie Blattgold bewirkt weitere Kombinationsmöglichkeiten. Der Künstler bevorzugt Verfahren, durch die er sich kontinuierlich der endgültigen Wirkung nähern kann, was ihm die Arbeit mit Lackfarben und Eitempera, aber auch Aquarell und Gouache, eher als Öl- und besonders Acrylfarben erlaubt. Die Abgrenzungen der Formen können aber auch durch ein andersartiges Verfahren erzeugt werden, so kann beispielsweise das dargestellte Quadrat einer Lackarbeit hochglanzpoliert sein und sich somit von dem umgebenden matten Bereich abheben. Entscheidend kann in der endgültigen Wirkung letztlich auch die Anzahl der aufgetragenen Schichten sein, einer der wichtigsten Besonderheiten in Serras Werk.



Durch die Überlagerung der geometrischen Formen ergeben sich raumperspektivische Wirkungen: Nicht zuletzt beeinflusst durch die jeweils herrschenden Lichtverhältnisse treten die Farbflächen plastisch aus dem Bildgrund hervor oder gehen in diesem unter, um so an Räumlichkeit zu gewinnen. Die Tiefenwirkung wird darüber hinaus durch die Transparenz der bis zu mehreren hundert übereinander liegenden Lasuren verstärkt. Den Kompositionen zu Grunde liegt ein Konstruktionsverfahren, welches vom mathematischen Prinzip der Fibonacci Reihe abgeleitet ist. Die 1202 von Leonardo Fibonacci (genannt Pisano) im Liber Abbaci beschriebene Zahlenreihe setzt sich aus einer Folge zusammen, in der jede Zahl aus der Summe der beiden vorangehenden besteht: 0, 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89… Diese findet ihre Anwendung nicht nur in der Mathematik, sondern auch in der Biologie, Architektur, Wirtschaft und Informatik. In der Natur zeugen beispielsweise Früchte wie Ananas, Trauben und Tannenzapfen oder Sonnenblumen von der Beziehung zu dieser Zahlenfolge, aber auch die Vermehrung von Hasen kann durch diese berechnet werden. Jedes Distanzverhältnis, sowohl was den Bildträger, als auch die dargestellten geometrischen Formen betrifft, lässt sich entweder von den Zahlen der Goldenen Reihe, deren Summe oder Multiplikation ableiten. Demgemäß ordnet Serra beispielsweise Quadrate so an, dass ihre Seiten jeweils 3, 5, 8 und zuletzt 13 Zentimeter vom Bildrand entfernt sind, wodurch der Eindruck einer – wenn auch rechteckigen – Spirale entsteht, wie sie bei einem Schneckenhaus zu beobachten ist. Daraus ergibt sich für den Betrachter eine Tiefenwirkung, da er dies als eine Verkleinerung oder Vergrößerung des Quadrates empfindet. Unterstützt wird der plastische Charakter durch den Verzicht auf jegliche Rahmung und durch die Tiefe des Bildträgers, der bisweilen auch dank der Anbringung von Distanzhaltern auf der Rückseite in eine Art Schwebezustand gerät.



Bei den vom Künstler bevorzugten Pigmentzubereitungen, die beim Auftrag durchscheinende Schichten bilden, bleibt jeder darunter liegende Farbton, jede malerische Geste erkennbar. Ein Verfahren, das eine unglaubliche Meisterschaft erfordert, da kaum die Möglichkeit von Korrekturen besteht. So kann beispielsweise ein tiefer Blau-Ton durch eine orangerote Grundierung an Leuchtkraft gewinnen oder ein roter Untergrund durch die darüber liegenden schwarzen Schichten hindurchleuchten. Kaum eine Tonalität in Serras Werken ist Ergebnis des Auftrags einer bestimmten Farbabstufung, sondern ergibt sich allmählich durch die Schichtung verschiedener Pigmente. Serra bedient sich der transluziden Eigenschaften der Aquarell-, Tempera- und Lackfarben, um die vielfältigsten Wirkungen zu erreichen. Pastoser Farbeinsatz kommt in Serras Werk nicht vor. Der Wirkungsraum des Künstlers beschränkt sich auf wenige Millimeter, obwohl dies ganz der Tatsache zu widersprechen scheint, dass die gemalten Flächen das Resultat mehrerer hundert Arbeitsvorgänge sind. Die durchsichtigen Schichten ermöglichen es, sich mit minimalen Eingriffen allmählich dem endgültigen Ergebnis zu nähern. Eine dauernde Forschung, die das Risiko des Nicht-Enden-Könnens in sich birgt, tatsächlich auf Unendlichkeit zielt.



Der vom Künstler erstrebte Perfektionismus lässt dem Zufall scheinbar keinen Raum. Dennoch ist dieser von hoher Bedeutung in seiner Kunst und ist sogar entscheidend in der Wahrnehmung seiner Werke. Die auf den ersten Blick absolut gleichmäßige, geradezu industriell perfekt wirkende Farbfläche lässt bei genauerer Betrachtung in den fein aufgetragenen Pinselstrichen die Hand des Künstlers erkennen. Gelegentlich verflüssigt sich die Materie, legt sich als dünne durchschimmernde Schicht über Papier, Leinwand und Holz, um sich dann wieder zu verdichten. Sie öffnet sich zu einem Netz, durch das ein Grund zum Vorschein kommt, der jedoch ungreifbar, unerreichbar bleibt: Eine Unendlichkeit, in die der Betrachter aufgefordert wird einzutauchen. Die ebenfalls von Hand ausgeführten Abgrenzungen in den Darstellungen lassen, trotz der besonderen Begabung Serras, geometrische Formen, auch Kreise, von Hand zu zeichnen, den menschlichen Ursprung erkennen, was sie lebendiger erscheinen lässt. Der Künstler vermeidet auf diese Weise einen mechanischen Eindruck. Nur selten bedient er sich Schablonen oder deckt Bereiche ab.



An Dynamik gewinnen ferner die Bildflächen durch den Lichteinfall. Die Wirkung ändert sich je nach Beleuchtung. Dieses durch ein Netz aus hauchdünnen Farbschichten regulierte Licht- und Farbspiel bedingt, dass die Wahrnehmung vom Standort des Betrachters, von der Lichtbeschaffenheit sowie Lichtintensität abhängig ist. Jeder Standortwechsel wirkt sich unmittelbar auf die Bildrezeption aus. Ein stehender Betrachter wird die obere Bildhälfte als dunkler wahrnehmen, während der vor ihm sitzende diese als die hellere empfinden wird. Künstliches Licht wird im Gegensatz zu natürlichem die farblichen Graduierungen ganz anders hervorbringen und selbst das morgendliche Licht wird andere Effekte als das abendliche erzeugen. Durch Licht wird den Werken ein eigenes Leben gegeben. So monochrom Serras Werke erscheinen mögen, so vielfältig sind die verwendeten Farbtonalitäten, die durch das eindringende Licht offenbart werden. Gold bedeutet Serra zudem ein Bildgrund, der gewissen Farbpigmenten und Lacken erst die Möglichkeit gibt, lichtdurchlässig zu werden und ihre Schönheit zu entfalten. Die über der hauchdünnen reflektierenden Metallschicht aufgetragenen Farblasuren kommen zum Vorschein und geben dem Betrachter deren wahre chromatische Zusammensetzung preis. Der Verlauf der einzelnen Pinselstriche sowie die Übereinandersetzung verschiedener Pigmente entäußern sich. Die von Blatt- oder Kompositionsgold gebildeten Barrieren entwickeln einen Doppeleffekt: Auf der einen Seite geben sie den darüber liegenden Farbschichten die Möglichkeit sich in ihrem chromatischen Reichtum zu entfalten, andererseits bewirken sie eine Verdoppelung der Farbpracht der aufgetragenen Materie. So wird in der Rezeption des Betrachters die Wirkung der Malschichten, durch die er hindurchschauen muss, durch diejenige der Reflektion dieser Malschichten im metallischen Untergrund überlagert. Jeder Pinselstrich entfaltet auf diese Weise eine zweifache Wirkung: Seine direkte Wahrnehmung und die Wahrnehmung seines Widerscheins, wodurch der kinetische Effekt eine weitere Steigerung erreicht.



Serras „abstrakte Räume“ sind allem Anschein zum Trotz durchaus nicht Ausdruck einer gegenstandslosen Welt. Die Inspirationsquellen sind ganz im Gegenteil in der ihn umgebenden Realität zu suchen, wie es die Werkgruppe der Orizzonti wohl am offensichtlichsten verdeutlicht. Diese horizontal in zwei Farbflächen geteilten Bilder sind Landschaftsdarstellungen, Meeres-Veduten, wie sie sich ganz in der Nähe des Wohnortes des Künstlers täglich darbieten, oder deren Eindrücke auf Reisen in Aquarellen eingefangen werden, um im Atelier später weiterverarbeitet zu werden. Lichtverhältnisse zu verschiedenen Tageszeiten, aber auch Stimmungswandel, wie aufkommende Gewitter, spiegeln sich hier in den unterschiedlichen farblichen und technischen Kombinationen wider. Selbst die im Werke Serras so oft auftretenden rechteckigen Flächen können als Reminiszenz umliegender Felder angesehen werden, die für den Künstler von seinem Atelier aus gut sichtbar je nach Bepflanzung und Wachstumsstadium immer neue „Fleckenmuster“ ergeben.



Konsequent knüpft Serra in seinen Werken an die Errungenschaften der Alten Meister an und übersetzt diese in seine ganz eigene Sprache. Die Anwendung unkonventioneller Maltechniken lässt ganz neue, eigenständige und lichtvolle Werke entstehen. Serra wurde einmal als „Lichtsucher“ bezeichnet, dem es trotz der Dunkeltonigkeit seiner Bilder gelingt, unterste helle Farbschichten an der Oberfläche zum Aufleuchten zu bringen. Seine Werke zeugen davon, dass der Künstler in seiner Suche erfolgreich war. Die von ihm entwickelte Meisterschaft der Beherrschung des Lichtes wird in seinen Werken offenbar.



Das historische Interesse Serras sollte nicht als anachronistisch angesehen werden. Ganz im Gegenteil ermöglicht gerade die bewusste Anerkennung der Bedeutung des künstlerischen Erbes der Vergangenheit, und die Integration einer mathematisch-wissenschaftlich geprägten südländischen Kultur mit einem stark dem Lichtstudium gewidmeten nordischen Interesse, die Entwicklung einer ganz persönlichen modernen künstlerischen Ausdrucksweise. Zur starken Verbundenheit mit der Kunst vergangener Jahrhunderte gesellt sich ein ausgeprägter innovativer Impuls. Mit der extremen Reduzierung, der Konzentration auf wenige geometrische Formen sowie dem rigorosen Einsatz wissenschaftlicher Richtlinien hat Serra ein äußerst begrenztes formales Entfaltungsgebiet abgesteckt. Seine Bilder sind auf ein Minimum an Form- und Farbstrukturen reduziert und spielen mit monochromen Farbwerten. Farbfeld und Quadrat sind Grundthema seiner Arbeit. Variation sucht er in der Technik und der differenzierten Bearbeitung der Farbfelder: Immer wieder experimentiert er mit unterschiedlichen Techniken. Eben diese konsequente Forschung innerhalb eines eng gefassten Bereiches macht aus dem Oeuvre Serras eine Einheit, in der die einzelnen Werke als Variationen auf ein Thema angesehen werden können.



In der Rezeption entfalten die grobe Anordnung der dargestellten geometrischen Formen sowie die feinen Strukturen der Lasurenmalerei gleichermaßen ihre Wirkung, auch wenn die letzteren auf den ersten Blick nicht bewusst wahrgenommen werden. Eine derartige Sensibilität, welche von der Überlagerung des Makro- und des Mikrokosmos dem Betrachter abverlangt wird, bedarf eines Haltes, der Regel. Halt finden Serras Kompositionen im Bildrand des rahmenlosen, distanziert vor den Wandgrund gestellten Tafelbildes, im mittigen Bildhorizont oder dem schwebenden Quadrat und Regel durch die Mathematik seiner Proportion. Durch den Einsatz traditionsreicher Bildträgertypen erlangen die dargestellten Formen ihre Entrückung. Es entstehen hieratische Formen und „heilige“ Flächen.



Der Künstler verfolgt und beeinflusst die Entstehung seiner Werke von der Anfertigung des Bildträgers und der Farben bis zur Fertigstellung, was dem Entstehungsvorgang der Werke etwas Rituelles verleiht. Dieses aufwändige Verfahren ermöglicht ihm die komplette Kontrolle, bedeutet aber zugleich lange Arbeitszeiten. Paolo Serras Kunst ist nicht die Kunst des schnellen Malens, ebenso wenig wie seine Werke Objekte der raschen Betrachtung sind. Ihrem Höchstmass an Sensibilität können wir uns nur mit einem ebensolchen nähern.

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