1867
Am 7. August wird Emil Nolde – eigentlich Hans Emil Hansen – als vierter Sohn des Bauern Niels Hansen und seiner Frau Hanna Christine im Dorf Nolde nahe Tondern, im deutsch-dänischen Grenzland auf damals deutschem Gebiet, geboren. Der Kirchenbucheintrag vermerkt den Geburtstag versehentlich erst für den 20. August. Die Umgangssprache ist Plattdänisch, in der Schule wird Hochdeutsch gesprochen.
1884–1888
Emil Hansen setzt gegen den Willen des Vaters eine Lehre als Holzbildhauergehilfe und Zeichner in der Sauermannschen Möbelfabrik und Schnitzschule in Flensburg durch.
1888/89
Während seiner Wanderjahre arbeitet Emil Hansen als Schnitzer in Möbelfabriken in München und Karlsruhe, wo er auch die Kunstgewerbeschule besucht und heimlich die Aktklasse belegt.
1890
Hansen findet eine Anstellung in einer Berliner Möbelfabrik, dort ist er bis zum Tod seines Vaters Ende Dezember 1891 tätig.
1892–1897
Hansen wird Fachlehrer für gewerbliches Zeichnen und Modellieren am Industrie- und Gewerbemuseum in St. Gallen. Beginn der lebenslangen Freundschaft mit seinem Zeichenschüler Hans Fehr, der eine Karriere als Rechtshistoriker einschlägt. Es entstehen erste Landschaftsaquarelle und Zeichnungen. 1894 beginnt Hansen eine Folge grotesker Darstellungen der Berggipfel in Sagengestalt, die er in hoher Auflage als ›Bergpostkarten‹ vertreiben lässt. Der finanzielle Erfolg sichert nach seiner Entlassung in St.Gallen den Lebensunterhalt in den Anfangsjahren als freier Künstler.
1898
Ablehnung durch die Münchner Akademie der Bildenden Künste unter Franz von Stuck. Hansen besucht die privaten Malschulen von Friedrich Fehr und Adolf Hölzel.
1899
Paris-Reise mit Eigenstudium im Louvre und Besuch der privaten Académie Julian.
Herbst 1900
Anmietung eines Ateliers in Kopenhagen. Er malt eine frühe Folge religiöser Bilder.
1901 /02
Den Sommer verbringt Hansen im Fischerdorf Lild Strand an der Nordküste Jütlands. Dort entstehen phantastische Zeichnungen mit Strandläufern, Nachtwandlern und seltsamen Naturwesen. Er pflegt einen regen Briefwechsel mit der jungen dänischen Schauspielerin Ada Vilstrup, einer Pastorentochter.
1902
Am 25. Februar Heirat mit Ada (Adamine Frederikke) Vilstrup (geb. am 20. September 1879). Im Zuge der Heirat legt er den Namen Hansen ab und benennt sich nach seinem Geburtsort Nolde. Umzug von Kopenhagen nach Berlin. Mit diesem Lebenskapitel endet der erste Band seiner Memoiren (Das eigene Leben, 1931).
1903–1905
Noldes verbringen die Winter in Berlin, die Sommer auf der Ostseeinsel Alsen. Die finanzielle Not ist groß. Der Künstler arbeitet in einem Bretteratelier am Strand. Am 22. September 1904 erfolgt die amtliche Namensänderung zu Nolde. Nach einem gesundheitlichen Zusammenbruch von Ada ermöglicht Hans Fehr dem Paar 1904/05 einen sechsmonatigen Aufenthalt in Italien. Im Herbst 1905 entsteht die Radierfolge der ›Phantasien‹. Im September 1905 erste Berliner Ausstellung im Kunstsalon von Paul Cassirer, den Nolde später als Juden schmähen wird.
1906–1908
Ab Februar 1906 Mitglied der Künstlergemeinschaft Brücke, die Nolde in ›Verein jungdeutscher Künstler‹ umbenennen will. Nach dem Austritt im November 1907 wiederholte erfolglose Versuche der Gründung einer eigenen Künstlergruppe; u.a. Treffen mit dem bewunderten Vorbild Edvard Munch. Ab 1908 Mitglied der Berliner Secession. Er besucht seinen Freund Hans Fehr in Cospeda bei Jena, wo er die Technik des Aquarellierens für sich entdeckt. Im Herbst 1908 Reise nach Schweden.
1909
Während der Sommermonate im Fischerdorf Ruttebüll entstehen die religiösen Gemälde Abendmahl, Pfingsten und Verspottung.
1910
In Hamburg, Essen, Jena und Hagen finden größere Ausstellungen statt. Es entstehen Bilder vom Hamburger Hafen. Reise nach Brüssel. Nolde besucht James Ensor in Ostende. Umzug in Berlin in die Tauentzienstraße 8 (bis 1929). Nach einer Auseinandersetzung mit Max Liebermann wird Nolde gegen die Stimme Liebermanns aus der Berliner Secession ausgeschlossen; den Ausschluss wird Nolde später antisemitisch umdeuten. Er tritt der Neuen Secession bei (bis Ende 1911).
1911
Der Hamburger Kunstsammler Gustav Schiefler, mit Nolde seit 1906 bekannt, veröffentlicht den ersten Band des Werkverzeichnisses der Druckgrafik. Nolde fertigt eine Vielzahl von Studien im Berliner Völkerkundemuseum, die in den folgenden Jahren in zahlreichen Gemälden ausgearbeitet werden.
1911/12
Das neunteilige Gemälde Das Leben Christi, Noldes Hauptwerk, entsteht. Seine religiösen Bilder bringen ihm große öffentliche Aufmerksamkeit, sowohl grenzenlose Bewunderung als auch heftige Kritik, ein.
1913
Auf den Ankauf zweier Nolde-Gemälde (Blumengarten mit Figuren und Abendmahl) für das Städtische Museum in Halle durch Max Sauerlandt folgt eine öffentliche Diskussion zur Rolle der modernen Kunst im Museum.
1913/14
Ab Oktober reisen die Noldes über Moskau, Sibirien, Korea, Japan und China in die »deutschen Schutzgebiete« nach Deutsch-Neuguinea. Als inoffizielle Teilnehmer der ›Medizinisch-demographischen Deutsch-Neuguinea-Expedition‹ dürfen sie vor Ort auf die koloniale Infrastruktur zurückgreifen. Abenteuerliche Rückreise, besonders nach Kriegsausbruch ab August 1914, vom Suezkanal über Frankreich und die Schweiz nach Deutschland. Weltkriegsbegeisterung. Mit 1914 endet der zweite Band seiner Memoiren (Jahre der Kämpfe, 1934). Der Südseereise widmet Nolde einen separaten Memoirenband (Welt und Heimat, 1936/1965).
1915
Auf Alsen entstehen 88 Gemälde, darunter Bilder nach Skizzen aus der Südsee und religiöse Motive wie Grablegung.
1916
Umzug in das Bauernhaus Utenwarf nahe der Nordseeküste für Sommeraufenthalte (bis 1926).
1919
Mitgliedschaft im Berliner Arbeitsrat für Kunst. Nolde schafft eine Folge von phantastischen Aquarellen auf der Hallig Hooge, die in Format und Motivik den späteren ›Ungemalten Bildern‹ nahestehen.
1920
Nach der Volksabstimmung im Grenzgebiet wird Utenwarf dänisch, wodurch Nolde dänischer Staatsbürger wird, was er bis zu seinem Lebensende nicht ändern wird.
1921
Max Sauerlandt verfasst unter aktiver Mitwirkung von Nolde eine erste Monografie, Emil Nolde. Reise nach London, Plymouth, Paris, Toulouse, Barcelona, Granada, Madrid und Toledo. Im August Ausstellung der religiösen Bilder in der Lübecker Katharinenkirche.
1924
Reise nach Venedig, Florenz, Zürich und Wien.
1925
Nolde erarbeitet einen aufwändigen Marschentwässerungsplan für die Gegend um Utenwarf, der von den Behörden abgelehnt wird.
1926/27
Wegen der Veränderung der Landschaft Aufgabe von Utenwarf. Kauf der wenige Kilometer südlich (in Deutschland) gelegenen Warft Seebüll. Ab 1927 Bau des Wohn- und Atelierhauses Seebüll nach eigenen Entwürfen und Anlage eines Blumengartens. Als Erstes wird das Atelier errichtet, im Anschluss das Wohnhaus, das 1937 um ein Geschoss über der sogenannten Werkstatt ergänzt wird: den Bildersaal.
1927
Feierlichkeiten zu Noldes 60. Geburtstag: umfassende Jubiläumsausstellung in Dresden, im Anschluss in Hamburg, Kiel, Essen und Wiesbaden. Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Kiel. Veröffentlichung einer Festschrift mit Beiträgen von Freunden und Förderern, einer von Max Sauerlandt herausgegebenen Briefedition und des zweiten Bandes des Werkverzeichnisses der Druckgrafik durch Gustav Schiefler.
1929
Ankauf des Gemäldes Die Sünderin (1926) durch die Berliner Nationalgalerie. Der Bau eines Hauses in Berlin-Dahlem nach Plänen von Ludwig Mies van der Rohe scheitert an den Finanzen. Umzug innerhalb Berlins in die Bayernallee 10 in Charlottenburg.
1930
Offener Brief Noldes zur Unabhängigkeit der Ankaufspolitik der Nationalgalerie, Verteidigung der Amtsführung Ludwig Justis. Sommer/Herbst: Sylt-Aufenthalt, Bekanntschaft mit der jüdischen Bildhauerin Margarete Turgel, die nach 1945 fortgeführt wird. Arbeit am Memoiren-Manuskript Das eigene Leben.
1931
Ada und Emil Nolde besuchen den Vortrag von Paul Schultze-Naumburg, Kampf um die Kunst. Aufnahme in die Preußische Akademie der Künste. Publikation des ersten Bandes seiner Autobiografie Das eigene Leben. Noldes Selbsterzählung seiner Entwicklung zum Künstler in den Jahren 1867 bis 1902 entwirft ein Alternativbild zu Biografien deutscher Impressionisten. Er betont seine bäuerliche Herkunft und greift viele Erzählmuster seiner Bewunderer auf. Den Vorzugsausgaben legt Nolde kleine Aquarelle bei. Diese werden heute als Beginn der Werkserie angesehen, die später unter dem Begriff ›Ungemalte Bilder‹ Berühmtheit erlangt. Zunächst nennt Nolde sie seine »kleinen Farbenzeichnungen« und »kleinen Blätter«, daraus werden »Bildideen«, »Bildentwürfe« und »Bildskizzen«, schließlich setzt sich die Bezeichnung ›Ungemalte Bilder‹ durch. Dieser Begriff bezieht sich zunächst auf ihre Funktion als mögliche Vorlagen für Gemälde. Später formen Nolde und seine Nachlassverwalter daraus die Erzählung, sie seien ausschließlich in der Zeit der Verfolgung von 1938 bis 1945 im Verborgenen entstanden.
1932
Erhitzte Debatte um die Wanderausstellung Neuere deutsche Kunst (Oslo, Bergen, Stavanger, Malmö, Kopenhagen und Köln); Stellungnahme Noldes in Museum der Gegenwart, in der er den deutschen Impressionismus als »Zwitterkunst« bezeichnet.
Die letzte freie Reichstagswahl vom 31. Juli endet mit starken Zuwächsen für die NSDAP, die mit 37,3% die mit Abstand stärkste Partei im Reichstag wird, ohne die absolute Mehrheit zu erreichen. Die Nationalsozialisten erhalten im Kreis Südtondern fast 65 %, in Neukirchen – zu dem Noldes Seebüll gehört – über 85 %.
1933
Das Ehepaar Nolde reagiert begeistert auf die Regierungsübernahme der Nationalsozialisten und erhofft sich von Adolf Hitler die Ernennung Noldes zum Staatskünstler. Im April fordert Nolde in einem Brief an Max Sauerlandt eine Scheidung zwischen »jüdischer u[nd] deutscher Kunst, wie auch zwischen deutsch-französischer Mischung u[nd] rein deutscher Kunst«. Die Betonung des ›Nordischen‹ und ›Deutschen‹, die ab 1933 zum Leitmotiv der positiven Rezensionen Noldes wird, veranlasst die völkisch-reaktionäre Kunstkritik zu höhnischen Attacken. Insbesondere die biblischen Figurenbilder werden zur Zielscheibe. Nolde reagiert darauf, parallel zu seinem immer stärker akzentuierten Antisemitismus, indem er nach 1934 keine religiösen Ölgemälde mehr malt. An die Stelle religiöser Motive treten zunehmend solche aus der nordischen Sagenwelt, die ihn seit jeher faszinierten.
Im Mai wird Noldes Mitgliedsantrag an den völkisch gesinnten Kampfbund für deutsche Kultur abgelehnt, nahezu gleichzeitig wendet Nolde den ihm nahegelegten Austritt aus der Preußischen Akademie der Künste ab (wie erneut 1937). Der Maler wird zum zentralen Referenzpunkt der erbitterten Debatten über die Rolle des Expressionismus im NS-Staat, die im Frühsommer ihren Höhepunkt erreichen. Die vom Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund (NSDStB) organisierte Ausstellung 30 deutsche Künstler (mit zwei Gemälden Noldes) in der Galerie Ferdinand Möller wird verboten, kurz darauf ohne Beteiligung des NSDStB wiedereröffnet. Nolde erarbeitet in diesen Monaten einen nicht im Detail überlieferten Plan, der eine territoriale Lösung der sogenannten ›Judenfrage‹ – eine Aussiedlung der Juden – vorsieht. Den Malerkollegen Max Pechstein denunziert er bei einem Ministerialbeamten als Juden – wohl, um ihn als Kandidaten für die Leitung der Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst in Berlin zu disqualifizieren – und ist nicht bereit, die falsche Behauptung zurückzunehmen. Mithilfe von Mitarbeitern der Nationalgalerie werden Noldes Gemälde Reife Sonnenblumen (1932) und zwei Aquarelle in der Wohnung von NSDAP-Auslandspressechef Ernst (Putzi) Hanfstaengl in München platziert sowie zwei Blumen-Aquarelle bei Propagandaminister Joseph Goebbels, um Hitler sozusagen beiläufig für Noldes Kunst zu gewinnen – beide Aktionen bleiben erfolglos. Am 9. November ist Nolde Ehrengast Heinrich Himmlers bei den Feierlichkeiten zum 10. Jahrestag des ›Hitler-Putsches‹ in München. Am 15. November nimmt das Ehepaar Nolde an der feierlichen Eröffnung der Reichskulturkammer in der Berliner Philharmonie teil.
1934
Erfolgreiche Aquarell-Ausstellung in der Galerie Möller in Berlin (anschließend in Düren, Hamburg und Hannover). Sechs Wochen Krankenhausaufenthalt Noldes wegen einer Thrombose, gefolgt von einer Venenentzündung. Anschließend ausgedehnter Kuraufenthalt in Bad Kissingen. Im August bekräftigt Nolde durch die Unterzeichnung des ›Aufrufs der Kulturschaffenden‹ seine Unterstützung für Hitlers Führer-Rolle, wie u.a. Ernst Barlach, Wilhelm Furtwängler, Erich Heckel und Ludwig Mies van der Rohe. Im Folgemonat wird Nolde als dänischer Staatsbürger Mitglied der Nationalsozialistischen Arbeitsgemeinschaft Nordschleswig (NSAN), die im Jahr darauf durch die Gründung der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei Nordschleswig (NSDAP-N) gleichgeschaltet wird. Im November erscheint der zweite Band der Autobiografie Jahre der Kämpfe, der die Jahre 1902 bis 1914 wiedergibt. Zeitgenossen bemerken die Titelähnlichkeit mit Hitlers Mein Kampf. Besondere Beachtung findet die antisemitisch umgedeutete Schilderung seines Konflikts mit Max Liebermann und der Berliner Secession. Auf einem Werbezettel des Rembrandt-Verlags wird Nolde als Vorkämpfer »gegen die erdrückende Diktatur des jüdischen Kunsthandels und die Vorherrschaft der französelnd-impressionistischen Kreise« gepriesen.
1935/36
Ankauf fast der gesamten Nolde-Grafik durch den Folkwang-Museumsverein in Essen, insgesamt rund 455 Blätter. Dies geschieht mit Billigung des NS-linientreuen Direktors Klaus Graf von Baudissin. Im Sommer 1937 wird Baudissin damit beauftragt, für das Erziehungsministerium die Besuche der ›Kommission für Werke deutscher Verfallskunst seit 1910‹ (›Entartete Kunst‹) in den Museen zu begleiten.
Im Dezember 1935 wird Nolde in Hamburg-Eppendorf an Magenkrebs operiert und bleibt dort bis März 1936 in stationärer Behandlung. Anschließend Erholungsreise in die Schweiz. Nolde arbeitet in der zweiten Jahreshälfte an seinem dritten Memoirenband, der die Zeit von 1913 bis 1926 abdeckt (erscheint 1965 unter dem Titel Welt und Heimat), und bereitet die Publikation der Korrespondenz mit seinem langjährigen Freund Hans Fehr vor.
1937/38
Besuch in München bei seinem Sammler Friedrich Döhlemann, Bankier und Schatzmeister des Hauses der Deutschen Kunst, im Februar 1937. Führung durch das Haus der Deutschen Kunst, anschließend Urlaub in Garmisch-Partenkirchen. Noldes 70. Geburtstag wird durch Ausstellungen bei Günther Franke (München), Ferdinand Möller (Berlin) und Rudolf Probst (Mannheim) gewürdigt. Der Erfolg dieser Ausstellungen stimmt den Künstler positiv und führt zu zahlreichen Verkäufen.
In deutschen Museen werden 1052 Werke von Nolde beschlagnahmt, darunter auch die zwei Jahre zuvor erworbenen 455 Blätter aus dem Folkwang Museum.
Im Juli Eröffnung der Propagandaausstellung Entartete Kunst in München mit 33 Gemälden Noldes. Seine Werke werden als Verfallskunst an den Pranger gestellt. Kurz darauf erfolgt die endgültige Schließung der modernen Abteilung im Kronprinzenpalais Berlin. Absage der großen Feierlichkeiten zum 70. Geburtstag Noldes in Seebüll; vorzeitige Schließung der großen Geburtstagsretrospektive bei Rudolf Probst in Mannheim. Den ihm nahegelegten Austritt aus der Preußischen Akademie der Künste lehnt Nolde mit Verweis auf seine Parteimitgliedschaft erneut (wie schon im Mai 1933) erfolgreich ab.
Nolde verfasst ab Sommer 1937 eine Reihe von Briefen an NS-Funktionäre, in denen er sich selbst als Verkünder der »Weltbedeutung des Nationalsozialismus« bezeichnet und seine Kunst als »deutsch, stark, herb und innig« charakterisiert – u.a. an Kultusminister Bernhard Rust sowie an Propagandaminister Joseph Goebbels –, um eine Rückgabe der aus seinem Privatbesitz beschlagnahmten Bilder zu erreichen. Noldes Freund, der Jurist Hans Fehr, wendet sich an Staatssekretär Ernst von Weizsäcker im Auswärtigen Amt, um auf Noldes Status als Ausländer aufmerksam zu machen. Das Gesetz über ›Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst‹ vom 31. Mai 1938 macht es Nolde als dänischem Staatsbürger möglich, die aus seinem Privatbesitz für die Münchner Ausstellung eingezogenen Werke zurückzufordern.
1938 malt Nolde mit Gaut der Rote auf Grundlage eines seiner kleinformatigen Aquarelle das erste von drei Wikinger-Gemälden in diesem Sommer. Ab Ende 1938 ist überhaupt keines seiner Gemälde mehr in der in veränderter Zusammenstellung weiterwandernden Ausstellung Entartete Kunst zu sehen. Am 6. Dezember 1938 sendet Nolde eine antisemitische Stellungnahme an NSDAP-Reichspressechef Otto Dietrich, um eine Richtigstellung in der Presse zu erwirken; kurz zuvor war er in einem Zeitungsartikel unter dem Titel »Der Feind im eigenen Land – Juden als Kulturbolschewisten« aufgezählt worden. Am 8. Dezember besagt eine kurze Presseanweisung zu Nolde, er sei »kein Jude«, sondern sogar »P.g.«, Parteigenosse.
1939
Das Ehepaar Nolde besucht im Frühjahr das Depot ›entarteter Kunst‹ in Schloss Schönhausen im Norden Berlins; Ada liest dort aus den Lebenserinnerungen vor, um Noldes NS-Loyalität zu belegen. Im Mai kann Adas Bruder, der Kopenhagener Kunsthändler Aage Vilstrup, elf der aus Museumsbesitz beschlagnahmten Nolde-Gemälde gegen Devisen erwerben; weitere sieben werden vom Propagandaministerium bei der Auktion in der Galerie Fischer in Luzern im Juni 1939 ins Ausland verkauft, Die Sünderin ersteigert Hans Fehr. Auf den Beginn des Zweiten Weltkriegs reagiert das Ehepaar mit Begeisterung. Aus Angst vor Kriegsschäden lagert Nolde umgehend 91 Gemälde auf einem Bauernhof an der Elbmündung aus.
1940
Auf kleinen Zetteln hält Nolde schon seit Längerem seine Gedanken zu Künstlertum, Gott und Weltgeschehen fest. Nun beginnt er, diese Aphorismen – die ›Worte am Rande‹ – zu datieren. Er erzielt in diesem Jahr die höchsten Verkaufseinnahmen seiner Karriere. Er verfasst einen (nicht überlieferten) Brief an Hitler, in dem er abermals seine Übereinstimmung mit dem Regime betont. Es ist unklar, ob der Brief abgeschickt wurde und Hitler erreicht hat; aus der Reichskanzlei ist keine Reaktion bekannt. Wegen der zunehmenden Luftangriffe auf Berlin verbringt das Ehepaar erstmals einen Teil des Winters in Seebüll. Auf Grundlage einer ›Anordnung über den Vertrieb minderwertiger Kunsterzeugnisse‹ fordert die Reichskammer der bildenden Künste im Dezember von Nolde die Vorlage neuerer Arbeiten.
1941
Im Februar werden bei dem Düsseldorfer Galeristen Alex Vömel knapp 100 Kunstwerke beschlagnahmt, darunter 21 Bilder Noldes, die sich dort in Kommission befinden. Nachdem sich Himmlers Stellvertreter Reinhard Heydrich im Propagandaministerium über die Höhe von Noldes Einkünften beschwert, steht der Ausschluss von Nolde aus der Reichskunstkammer intern schon fest, und zwar Wochen bevor der Künstler im Juni 1941 dem ›Ausschuß zur Begutachtung minderwertiger Kunsterzeugnisse‹ eine Auswahl von 4 Gemälden und 18 Aquarellen vorlegt. Aus Angst vor Luftangriffen und möglichen Beschlagnahmungen lagert Nolde ab Juni viele weitere Werke bei Bekannten aus.
Am 23. August wird Nolde sein Ausschluss mitgeteilt. Offizieller Grund ist künstlerische Unzuverlässigkeit, intern werden Noldes hohe Einkünfte (rund 80 000 RM für das Steuerjahr 1940) kritisiert. Damit ist ihm jede berufliche sowie nebenberufliche Betätigung auf dem Gebiet der bildenden Künste untersagt, was ein Verkaufs-, Ausstellungs- und Publikationsverbot bedeutet. Außerdem verliert er den Anspruch auf kontingentiertes Malmaterial. Freunde helfen ihm zukünftig mit Farben und Leinwand aus. Nolde hat Sorge, dass dieser Ausschluss ein ›Malverbot‹ bedeutet. Am 20. November teilt die Reichskunstkammer Nolde mit, dass die zur Prüfung eingereichten Werke beschlagnahmt bleiben – sie sind seitdem verschollen –, und erinnert ihn an seine Pflicht, künftig seine Werke der Kammer vorzulegen, bevor er sie »der Öffentlichkeit übermittelt«. Nach Noldes juristischem Beistand Hans Fehr bedeutet dies, dass das ›Malverbot‹ des früheren Schreibens aufgehoben wurde (Brief vom 17. März 1942).
Von 1942 bis 1944 entstehen elf Blumengemälde sowie ein Figurenbild. Ab Ende des Jahres produziert das Ehepaar im Eigendruck rund fünfzig Typoskripte der Memoiren ihrer Südseereise Welt und Heimat, die sie im Freundeskreis verschicken.
1942
Unter den rund vierzig jungen an der Front stehenden Soldaten, denen das Ehepaar Nolde regelmäßig Rundbriefe schickt, ist auch der Maler Dieter Hohly aus Stuttgart. Anfang Februar ist er eine Woche in Seebüll zu Gast, wo er bei der Herstellung des Typoskripts von Noldes Südseereise-Erinnerungen hilft. Anschließend verfasst Hohly einen ausführlichen Erlebnisbericht über seinen Besuch mit zahlreichen Skizzen, unter anderem auch einer detaillierten Wiedergabe der Hängung im ›Bilderraum‹ in Seebüll. Im Frühjahr reisen Ada und Emil Nolde mit einer Auswahl von Aquarellen nach Wien, um bei Reichsstatthalter Baldur von Schirach eine Aufhebung des Berufsverbots zu erreichen. Das Treffen kommt nicht zustande, allerdings verspricht von Schirach, sich für Noldes Kunst einzusetzen. Ada muss mehrere Monate im Krankenhaus Eppendorf verbringen. Die Korrespondenz des Ehepaars während zweier mehrmonatiger Klinikaufenthalte – sowohl in diesem Jahr als auch 1943 – gibt Einblicke in die Weltanschauung und den sich steigernden Antisemitismus der Noldes.
1943
Im März überlasst Nolde Ilse Göring-Diels, Ehefrau des ehemaligen Gestapo-Chefs Rudolf Diels sowie Schwägerin und Nichte von Hermann Göring, fünf Gemälde, darunter Dämmerstunde am Hafen (1924), Meer und weiße Wolken (1937) und Brennende Burg (1940), sowie sechs Aquarelle für die Villa der Diels in Berlin-Dahlem, wohl um Hermann Göring von Noldes Kunst zu überzeugen. Ein Jahr später werden die drei genannten Gemälde nach Burg Mauterndorf gebracht, den österreichischen Wohnsitz von Hermann Göring. Sie sind seit Kriegsende verschollen. Die in Dahlem verbliebenen Werke werden bei einem Luftangriff im Herbst 1944 zerstört.
Von April bis Juni ist Ada erneut im Krankenhaus Eppendorf. Dort beginnt sie mit der Übersetzung von Das eigene Leben ins Dänische. Nach der Bekanntgabe der Entdeckung der Massengräber bei Katyn, wo polnische Offiziere vom sowjetischen NKWD erschossen und begraben wurden, erreicht die nationalsozialistische Kriegspropaganda ab April ihren antisemitischen Höhepunkt. Dies spiegelt sich auch in Noldes Aphorismen wider, die der Künstler später – zusammen mit einigen seiner ›Ungemalten Bilder‹ – veröffentlichen will.
Nach Ostern 1943 schickt er Ada in einem Brief vier der kleinen Zettel, die er für seine Aphorismen verwendet, in denen er sich selbst in einen großen welt- und religionshistorischen Prozess einschreibt. In ihnen kulminiert Noldes langjährige Selbststilisierung als verkannter Vorkämpfer gegen das Judentum. Sie sind der Höhepunkt seiner antisemitischen Auslassungen. Auf einem weiteren dieser kleinen Notate von Mai führt er seine Vorstellungen über den Weltkrieg als einen ›jüdischen Krieg‹ aus.
Kurz vor einem verheerenden Luftangriff auf Hamburg wird Ada nach Seebüll entlassen. Während des Zweiten Weltkriegs ist Nolde – trotz Berufsverbots und Materialknappheit – im abgeschiedenen Seebüll in der Lage, kontinuierlich künstlerisch zu arbeiten, anders als viele seiner Künstlerkollegen, deren Ateliers ausgebombt werden.
1944
Im Februar wendet sich Nolde mit Verweis auf seine Parteimitgliedschaft an den neu ernannten Direktor der Berliner Vereinigten Staatsschulen Otto von Kursell und bittet ihn vergeblich, sich für die Aufhebung des Berufsverbots einzusetzen. Am 15. Februar zerstören Bomben Noldes Berliner Atelierwohnung; etwa 3000 Grafiken, Aquarelle und Zeichnungen sowie Werke aus seiner Sammlung u.a. von Paul Klee, Wassily Kandinsky, Oskar Kokoschka, Lyonel Feininger und Ernst Josephson gehen in Flammen auf.
1945
Bis kurz vor Kriegsende hofft Nolde auf den ›Endsieg‹. Die Aphorismen, die Nolde ab dem Frühjahr verfasst und teilweise rückdatiert, zeugen dagegen vom nachträglichen Versuch, sich von Hitler und der NS-Diktatur zu distanzieren. Aus einer Notiz zu seinen ›Worten am Rande‹ geht hervor, dass er nach Mai zahlreiche Zettel mit Gedanken zu Politik und Weltgeschehen vernichtet. Im Sommer kommen britische Offiziere zu Besuch in Seebüll und zeigen Interesse an Noldes Kunst. Die Eheleute Nolde bitten den bis vor Kurzem an der Front stationierten Joachim von Lepel (1913–1962), ihnen als Assistent zur Seite zu stehen; er sagt zu.
1946–1955
Am 13. August 1946 entlastet der Entnazifizierungsausschuss Kiel Nolde trotz Parteimitgliedschaft und interpretiert dabei die NS-Ablehnung von Noldes Kunst als »Absage gegen das Regime«. Nach ersten Entwürfen seit den 1930er-Jahren erfolgt die endgültige testamentarische Verfügung über die zukünftige Stiftung. Am 2. November 1946 stirbt Ada Nolde. Am 22. Februar 1948 heiratet Nolde die 26-jährige Jolanthe Erdmann (9. Oktober 1921 – 13. Juni 2010), Tochter des befreundeten Komponisten und Pianisten Eduard Erdmann. Auch nach Kriegsende arbeitet Nolde weiter an seinen Memoiren, unter anderem schreibt er die letzten Kapitel seines vierten Memoirenbandes, der 1967 unter dem Titel Reisen, Ächtung, Befreiung erscheinen wird. Seine handschriftlichen Vorarbeiten veranschaulichen die Entwicklung und Dramatisierung des Verfolgungs- und Opfernarrativs. So wird zum Beispiel der Besuch eines kunstliebenden Gestapo-Beamten im Winter 1940/41 – also vor Verhängung des Berufsverbots – zu einem Gestapo-Kontrollbesuch umgedichtet. Nolde erfindet für seine ›Ungemalten Bilder‹ die Erzählung, sie seien während des ›Malverbots‹, »heimlich«, in einem »kleinen halbversteckten Zimmer« entstanden. Gegen die übersteigerte Darstellung Noldes ausschließlich als Opfer der NS-Diktatur, die große Verbreitung findet, gibt es kaum Einwände. Nur Adolf Behne bezeichnet den Maler anlässlich einer Ausstellung zu dessen 80. Geburtstag 1947 als »entarteter ›Entarteter‹«. Nolde erhält in den folgenden Jahren zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen, u. a. die Stefan-Lochner-Medaille der Stadt Köln (1949) und den Grafik-Preis der XXVI. Biennale von Venedig (1952). 1952 gehört Nolde zu den ersten Empfängern des neubegründeten Ordens ›Pour le Mérite für Wissenschaft und Künste‹. Er ist mehrfach auf der Biennale in Venedig vertreten (1950, 1952, 1956) und in Kassel auf der documenta 1955.
1956/57
Emil Nolde stirbt am 13. April 1956 in Seebüll. Die testamentarisch verfügte Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde wird am 12.Juni 1956 als rechtsfähige Stiftung bürgerlichen Rechts anerkannt. Wie von Nolde testamentarisch bestimmt, wird sein langjähriger Vertrauter Joachim von Lepel Direktor.
Die Stiftung hat den Auftrag, den umfangreichen Nachlass Noldes in Seebüll im Sinne des Künstlers zu verwalten, sein Werk der Nachwelt zu erhalten und weltweit zu vermitteln. Die erste Jahresausstellung im Nolde-Haus eröffnet 1957.
1958
Auf Initiative der Stiftung erscheint eine Nolde-Monografie des Kunsthistorikers Werner Haftmann. In der Publikation Emil Nolde popularisiert Haftmann auch die Geschichte der angeblich heimlichen Entstehung der ›Ungemalten Bilder‹. In der Neupublikation von Jahre der Kämpfe, die in diesem Jahr erscheint, sind verschiedene grob antisemitische Passagen gestrichen.
1961
Die kleinen ›Ungemalten Bilder‹ werden vermehrt in Deutschland und im Ausland ausgestellt und erregen – auch wegen der sie einrahmenden Erzählung des angeblichen ›Malverbots‹ – großes Presse- und Publikumsinteresse.
1963
Haftmann legt den Bildband Ungemalte Bilder vor, der 40 der kleinformatigen Aquarelle in höchster Druckqualität mit 70 ausgewählten ›Worten am Rande‹ zusammenführt und in dem er die Erzählung vom widerständigen Künstler, der sich schließlich von den Nationalsozialisten abgewendet habe, vertieft. Wie bereits die Monografie von 1958 trägt auch dieses Buch zur Verbreitung der Erzählung vom ›verfolgten Künstler‹ bei.
1965/1967
Bei der Publikation von Noldes Südseereise-Memoiren, Welt und Heimat (1965), und seiner Darstellung der Jahre des Nationalsozialismus, Reisen, Ächtung, Befreiung, die zum 100. Geburtstag des Künstlers 1967 erscheint, nimmt der damalige Stiftungsdirektor Martin Urban (1913–2002, Direktor von 1963 bis 1992) zusammen mit dem Verleger Karl Gutbrod von DuMont Schauberg eine Reihe von Eingriffen vor, um »gewisse Stellen, die durch die geschichtliche Entwicklung überholt wurden oder heute deplaciert erscheinen, zu eliminieren«.
1967
Haftmann wird Direktor der Berliner Neuen Nationalgalerie. Anlässlich der Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag von Nolde in Seebüll hält Walter Jens, Professor für Rhetorik in Tübingen und als Schriftsteller eine der führenden moralischen Instanzen der Bundesrepublik, den Festvortrag, der im Eigenverlag von der Stiftung veröffentlicht und von Jens verschiedentlich publiziert und überarbeitet wird. Jens geißelte Noldes »antithetisch-rohe Ideologie«, seine »Ideale der Reinrassigkeit« und verwarf seinen Selbstentwurf als Maler, »der ein genialer Visionär, und nichts anderes, gewesen sein soll«. Angesichts dieser Deutschtümelei sei es ein »Akt der Pietät«, den Künstler vor »dem gefährlichsten Zugriff, der Eigen-Deutung, zu schützen«. Denn in seiner Kunst hätte Nolde sich selbst widerlegt; deshalb müsse man bei Nolde »beide Seiten ans Licht« bringen: »Naivität und Raffinement, das Konservative und die Modernität, Phantasterei und kompositorisches Kalkül, die Vision und das Berechnen der Antithesen, der Gebärdenbezüge und Winkelkorrespondenzen«. Es gelte daher, Abschied vom »faschistisch verfälschten, dem allzu Noldeschen Nolde« zu nehmen. Die Rede von Jens diente der Stiftung als willkommene Rechtfertigung, Nolde vor Nolde zu schützen.
1968
Der im Herbst erscheinende Roman Deutschstunde von Siegfried Lenz wird zum Bestseller; bald folgen Übersetzungen in mehr als 20 Sprachen, 1971 eine Verfilmung. Erzählt wird die fiktive Geschichte der Überwachung eines Malverbots während des Nationalsozialismus durch den Dorfpolizisten, der – obwohl mit dem Maler befreundet – seinen Sohn dazu bewegt, den Künstler zu bespitzeln, um ihn beim verbotenen Arbeiten zu überführen. Der Maler Max Ludwig Nansen (angelehnt an Nolde, dessen Geburtsname Hansen ist) beruhte offensichtlich auf der Darstellung Noldes von Haftmann, die fiktiven Orte Rugbüll und Bleekenwarf genauso offenkundig auf dem Dorf Ruttebüll und Noldes Wohnsitzen Utenwarf und Seebüll. Viele der im Roman beschriebenen Gemälde kann man bei Haftmann abgebildet wiederfinden – und die ›Unsichtbaren Bilder‹ in Deutschstunde waren Lenz’ Aneignung der ›Ungemalten Bilder‹. Viele Leser transferierten Nansen in Nolde und lasen den Roman als Nolde-Biografie – von Lenz unbeabsichtigt. So verstärkte sich Noldes Opfer-Mythos, der von der Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde gepflegt wurde und einen besonderen Platz im kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik Deutschland erhielt.